Nach der Nachtwache ist vor der Nachtwache
Gerade hatte ich einen Niesanfall. Es kann doch nicht sein, dass ich schon wieder einen Schnupfen kriege. Das wäre dann der vierte innerhalb von zehn Wochen. Die erkältungsfreien Tage kann man da zählen.
Möglicherweise will ich aber auch nur etwas ausniesen, weil ich es nicht auskotzen kann …
Aber Kotzen tu ich doch auch. Wenn ich drüber nachdenke, habe ich in meinem Leben selten so viel gekotzt. Die letzten Male erklärten sich durch den übermäßigen Genuss von Spirituosen. Und das ist Jahre her. Mindestens tausend Jahre.
Hatschiii! Ich bin verwirrt. Was nun? Niesen oder kotzen?
Mein Körper zeigt mir an, dass ich etwas loswerden will. Nur hat mein Körper keinen Zugriff auf meine Psyche. Oder doch?
Nein, ich sehe es ganz rational: In Wirklichkeit kam ich in den letzten Monaten nie wirklich zur Ruhe. Ganzheitlich gesehen. Ich liebe den ganzheitlichen Gedankenweg. Ein Scheißdreck zog den anderen an. Bestimmt gibt es in der Mathematik einen Algorithmus dafür. Dazu eine schlecht beheizte Wohnung, die Nachtdienste, das scheiß Winterwetter … und last but not least die demolierte Psyche.
Fuckin` Baby Blue! Oder: Shit happens.
Ich brachte einen Schnupfen bis dato mit Verliebtheit in Verbindung. Denn es ergab sich in den letzten Jahren wirklich ein paar Mal diese seltsame Verknüpfung. (Nein, ich habe eigentlich gar nicht so oft den Schnupfen. Absolut nicht. Nur einmal im Jahr normalerweise.) Zur Zeit müsste ich nach dieser Theorie dauerverliebt sein.
So widerlegt sich mancher Aberglaube. Durch das Leben selbst. Vorausgesetzt, dass man für die Realität empfänglich ist.
Diese Gedanken nur am Rande.
Ich muss mich gedulden. Obwohl Geduld nicht gerade zu meinen Tugenden zählt. Alles braucht seine Zeit. Bereits vor dreißig Jahren hörte ich solche Sprüche wie: „Es tut mir weh, dass sich ein intelligenter und feinfühliger Mensch wie du langsam umbringt.“ Solche Sachen sagte fast jede Partnerin irgendwann zu mir. Es muss also etwas dran sein. Wahrscheinlich übersahen alle den Fakt, wie langsam ich bin … im mich umbringen. Irgendwann sterbe ich dann fast ganz normal.
O Mann! Ich reagiere allergisch auf solch unterirdisch dämlichen Sprüche!!
In Wahrheit haben diese Damen eine innere verklemmte Fotze! Entschuldigung. Mein inneres Tourette mal wieder.
Uff. Die Nacht wartet.
Wieder eine Nacht geschafft! Ich hangel mich von Tag zu Tag, von Nacht zu Nacht. Dabei könnte ich kotzen. Ich verdarb mir den Magen. Nicht vom Essen. Von einem Mensch. Menschen können einem ganz schön auf den Magen schlagen. Dabei gibt es schwerere und leichtere Fälle. Diesmal erwischte es mich mittelschwer bis schwer, würde ich sagen. Es ist schon einige Jahre her, dass mir allein schon beim Gedanken an einen speziellen Menschen die Galle hochkommt. Jedes Wort, das dieses Individuum absondert, bewirkt bei mir tatsächlich körperliches Unwohlsein und Brechreiz, dabei, man stelle sich das vor, liebte ich es! Ich liebte es sogar sehr.
Zum Vergleich: Meine Mutter machte damals, ich war Teenager, einen köstlichen Reissalat mit Mayonnaise, Gurke und Ei. Der wurde erst richtig gut, wenn er einen Tag stand. Ein solcher Salat muss erst ein Weilchen ziehen, bis er seinen Geschmack entfaltet, sagte meine Mutter. Ich konnte gar nicht genug davon kriegen. Doch dann kam das dicke Ende. Ich kotzte alles wieder aus und fühlte mich unbeschreiblich elend. So elend, als hätte ich `ne Alkoholvergiftung. Ich hatte mir gründlich den Magen verdorben. Seitdem kann man mich mit Reissalat jagen. Dabei war er ein echtes Lieblingsessen gewesen.
Ähnlich kann man sich das mit einem Menschen vorstellen. Was man eigentlich liebte, verwandelt sich in Gift. Widerlich. Ekelhaft. Wenn ich nur die Gedanken an diesen Menschen abstellen könnte. Würg. Ich hätte mir lieber den Magen an einer Meeresfrüchte-Pizza oder an einer Pferdefleisch-Lasagne verdorben. Nach ein, zwei Tagen geht es einem wieder besser, und die Angelegenheit ist gegessen – im wahrsten Sinne des Wortes. Bei Menschen gestaltet sich die Genesung langwieriger. Das Problem ist, Menschen kann man nicht einfach auskotzen. Man muss warten, bis sie sich im Kopf, in der Erinnerung verflüchtigt haben; bis sie unter ferner liefen abgebucht sind.
Hätte ich damals gewusst, dass der Reissalat verseucht ist, hätte ich ihn freilich nie genossen. Tja, und so ging es mir mit besagtem Individuum. Die Verseuchung sieht man einem Menschen meist nicht an. Man riecht sie auch nicht. Und das Verflixte ist, umso lieber man den Menschen hat, desto elender geht es einem danach. Auch die Liebe lässt sich schlecht auskotzen. Ich fühle mich echt beschissen. Scheußlich.
...
Die Augendeckel werden schwer. Ich haue mich in die Koje. Vorsichtshalber stelle ich mir eine Schüssel an den Bettrand.
Manchmal bin ich zu müde, um mein inneres Tourette zu bändigen. Dann denke ich öfters „Fuck!“ „Leck mich!“ und ähnlich ordinäres Zeug. Immer wieder auch „Baby Blue“. Keine Ahnung, wann ich anfing, „Baby Blue“ zu denken. Auf meinen einsamen Fahrradreisen fiel es mir auf. Besonders während großer Anstrengungen oder in misslichen Situationen. Da fühlte ich mich von „Baby Blue“ getröstet. Irgendetwas schwingt in mir im Gleichklang mit diesen Worten. Und ich finde es besser, als „Leck mich“. Die ordinären Ausrufe sind deswegen nicht ganz aus meinem Kopf verbannt – was ich auch gar nicht anstrebe. Ich erlaube meinen Gedanken ziemlich viel. Nur bei der Auswahl, welche von ihnen dann aufs Papier fließen, lasse ich mir nicht gern reinreden. Und in Gesprächen vertone ich nur die angemessenen Gedanken. Wobei mir bewusst ist, dass ich es nicht immer in der Gewalt habe. Wie oft rutscht mir eine Bemerkung raus, die unpassend oder sogar verletzend für mein Gegenüber ist. Es ist nicht leicht, es dann wieder gerade zu biegen. Von wegen Missverständnis oder so. Also entschuldige ich mich. Mehr kann ich nicht tun. „Verflucht und zugenäht!“ denke ich dann. Oder: „Idiot!“ Vielleicht lasse ich meinen Gedanken zu viel Freiheit. Ich meine, es ist doch klar, dass die auch mal raus wollen. Und sie wollen dabei eben nicht in schlechte oder gute bzw. in passende oder unpassende Gedanken getrennt werden. Ich verstehe das Bedürfnis meiner Gedanken, nach draußen zu drängen. Ich verstehe es wirklich, aber ich darf es unter keinen Umständen zulassen. Meine Gedanken würden mich ruinieren. Und das sehr schnell. Meinen Arbeitsplatz könnte ich gleich an den Nagel hängen. Und Freunde hätte ich auch bald keine mehr. Hoppla, wie viele Freunde habe ich eigentlich noch? Ich war, glaube ich, schon immer zu ehrlich. Ja, und wenn ich ein paar Bier intus habe, ist sowieso alles zu spät.
Die Harmonie im Kopf herzustellen ist eine verfluchte Gratwanderung. Ich kann mich nicht um alles kümmern. Also gebe ich manche Kompetenzen an Dingsbumse meines Unterbewusstseins ab. Sonst müsste ich ja bei jedem Wort, das ich sage oder aufschreibe, stundenlang hin und her überlegen. Mir wird offenbar, wie wenig Macht ich eigentlich über mich selbst habe. Alles hängt von dem Vertrauen an die Dingsbumse und der Harmonie ab. Bin ich nicht ein einsamer Gedankenkönig?
Ich bin eine Pappfigur. Oder? „Fuck!“ Sie brauchen mich wie der Vatikan den Papst. Ich bin ein Fels aus Pappe. Ich bin das Arschloch der Nation. Schreibe ich das? Revolutionen gehen normalerweise vom Volk aus und nicht vom König. Ich sollte mal wieder auf den Tisch klopfen, damit klar ist, wer hier der Herr im Hause ist! „Leck mich!“
Okay. Alles nur ein Missverständnis. Wir brauchen uns. „Baby Blue“. Ich bin ein Idiot. Dabei will ich doch gar nichts besonderes. Ich will nur ich sein.
Analogkäse auf der Pizza, Pferdefleisch in der Lasagne. Nicht überall wo „Hirn“ draufsteht, ist auch Hirn drin. Ins eine Ohr rein, und aus dem anderen wieder heraus.
Auf dem Nachhauseweg am Bahnhof einen Café Creme getrunken, der wie Spülwasser schmeckte.
Die demente Greisin stand auf dem Stationsflur und rührte sich nicht vom Fleck. Keinen Zentimeter vorwärts noch rückwärts. Um sie ins Bett zu bugsieren, musste ich einen Rollstuhl holen und sie kurz alleine lassen. Ich hörte einen dumpfen Schlag hinter mir und das Echo: „Hiiiilfe!“ Die alte Frau lag wie ein Käfer auf dem Rücken. Ich schaffte sie mit dem Rollstuhl zu ihrem Bett und ermahnte sie, nur nicht alleine aufzustehen – wohl wissend, dass es sinnlos war.
Eine andere Bewohnerin irrte über die Station. Sie war noch besser zu Fuß, und ich hatte keine Mühe sie zurück in ihr Zimmer zu führen. Ich rege mich schon lange nicht mehr über solche Situationen auf. Manchmal spiele ich mir selbst Aufregung vor.
Genauso verhält es sich z.B. mit Meldungen über Nahrungsmittelskandale. Das alles ermüdet mich nur furchtbar. Ich stelle mir ein Pferd vor, das aus der Lasagne herausspringt und wiehernd vor mir stehenbleibt.
Ich trank den Café Creme nicht aus und ging im Drogeriemarkt des Bahnhofs einkaufen. Die ganze Welt nervte mich. „Kommt mir nur nicht zu nahe“, dachte ich.
Altenpfleger(innen) haben schon einen leicht derben Humor. Früher oder später kriegt man den, oder man hat ihn bereits. Und Altenpfleger(innen) rauchen fast alle. Sie stehen alle Ritt lang zum Rauchen draußen vor der Tür oder auf der Terrasse, oder rauchen an anderen eher geheimen Örtchen Ich bin einer der wenigen Nichtraucher. Wahrscheinlich weil ich nicht gern mit dem Strom schwimme. Quatsch, Rauchen blieb seltsamerweise ein Laster, dem ich nie besonderes abgewinnen konnte. Ich glaube außerdem, dass ich kein typischer Altenpfleger bin. Nein, auch Quatsch. Die meisten landen aus Verlegenheit in der Altenpflege, weil sie nirgendwo anders unterkommen. Und so war es schließlich auch bei mir. Wie sagt man so schön: Wer nichts wird, wird Wirt. Das gilt in etwa auch für die Altenpflege. Diejenigen, die aus Idealismus diesen Beruf wählen, bleiben am kürzesten dabei. Natürlich gibt es ein paar Spinner mit Helfersyndrom oder christlichem Nächstenliebewahn. Gott sei Dank sind die meisten Altenpfleger(innen) nicht sonderlich selbstlos. Sie reagieren auf Leistungsdruck wie überall in der Wirtschaft: Die Arbeitsmotivation sinkt, die Zigarettenpausen mehren sich, und der Krankenstand steigt. Die Alten sehen dann freilich alt aus. Kein Witz. Kaum zu glauben, was ich in dem Vierteljahrhundert meiner Altenpflegetätigkeit alles erlebte. Grausam. Vieles verdränge ich. Es ist eine andere Welt. Anfangs kam ich gar nicht damit klar … Aber dann reizte mich genau das, dass ich Dinge sah, die man sonst nicht zu sehen kriegt. Und ich hielt durch. Und lernte die ein oder andere Altenpflegerin kennen. Seufz. Außerdem musste ich mich irgendwann für eine Arbeit entscheiden, als es mit dem Studieren nichts wurde.
Ich mochte den Schwarzen Humor schon immer. Ich lache nach wie vor gern, - obwohl ich so viel Scheiße sah. Irgendwie fühle ich mich solidarisch mit den Klo-Frauen und Klo-Männern. Man muss keine Arschwischmaschine im wörtlichen Sinne sein, um sich als Arschabputzer der Gesellschaft zu fühlen. Man muss einfach nur einen Beruf haben, den wenige machen wollen, für den man nicht gewürdigt und nicht anständig bezahlt wird; und schon fühlt man sich als Arschabputzer. Ich denke, manche Jobs werden dieses Image nie los. Nicht in tausend Jahren. (Ich kann nur hoffen, dass ich meine eigene Rente nicht mehr erlebe.)
So long.
Ich höre Menschen in meinem Kopf reden. Nein, nicht wirklich. Es sind vorgestellte Stimmen. Was sie denken. Wie sie urteilen. Sie leben woanders als ich. Die Berührungspunkte schmelzen dahin in einem letzten Winter.
Der Verkehr auf der Talstraße fließt wie jeden Tag. Die Rechnungen landen pünktlich im Briefkasten. Das Altenheim auf dem Berg existiert fort. Ich sehe mich in der Nacht darin sitzen und arbeiten. Ich spüre den Wind und die Kälte auf der Terrasse. Jedes Stöhnen, Husten und Schnarchen ist mir vertraut. In den Pausen lege ich die Beine hoch, falle in Sekundenschlaf. Der erscheint mir manchmal wie eine Ewigkeit. Ich kämpfe gegen die Müdigkeit wie gegen einen imaginären Drachen, der mich fressen will.
Ein Bewohner verstarb. Er erfror. Er stürzte auf seiner Terrasse. Rauchen ist in den Zimmern verboten. Die Kollegen vom Frühdienst fanden ihn. Die Kripo kam. Ich bin froh, dass ich nicht Nachtdienst hatte.
Das Leben geht weiter. So platt und wahr. Es ist scheußlich, dass das passierte. Ich huste über ein inneres Lachen hinweg. Die Menschen in meinem Kopf reden. Weil ich ihre Sprüche höre, lache ich. Es sind immer dieselben Sprüche.
Noch eine Nachtwache, und dann verlasse ich sieben Tage nicht mehr das Bett. Selten so elend gefühlt. Es reicht. Nein, ich jammere nicht. Ich kämpfe.
Gestern kam mir der Gedanke, was für eine unterschätzte Erfindung der Regenschirm doch ist. Im Dauerregen hätte ich beinahe angefangen, ihn gern zu benutzen, - meinen blauen Knirps, den ich mir zum
vorletzten Geburtstag schenkte.
Der Wind der Zeit deckt meine Erinnerungen mit
blauem Sand zu. So stelle ich mir es vor. Manche Dinge ragen noch aus dem Sand hervor. Und anderes sieht man nur noch in den Konturen. Der blaue Sand ist durchscheinend, fast wie Wasser. Er verschluckt Menschen, ganze Häuser, Städte … Stimmen, Gesichter, Berührungen … Ich sehe sogar mich. Ich weiß gar nicht, ob ich das bin.
Ich eilte im Regen zur Bushaltestelle, doch der Bus war schon weg. Fluchend sah ich in das Scheinwerferlicht der vorbeirauschenden Autos. Ich würde mal wieder mit dem Taxi zur Arbeit fahren.
Es heißt schon ganz richtig: „Im Regen stehen“.
2013 hatte noch nicht viele Sonnentage. Mir fällt nur einer ein. Vorhin, als ich aufwachte, war die Sonne kurz draußen. Schön, ins Sonnenlicht eines Tages zu blinzeln. Gerade im Winter leide ich als Nachtwache unter einer chronischen Lichtunterversorgung.
Vielleicht werden wir in der Zukunft wegen des Klimawandels viel mehr Regenschirme sehen, dachte ich, während ich auf das Taxi wartete.
Ich fühle mich wie ein Gespenst in schweren Eisenketten.
TV-Tipp:
"Leon - Der Profi", 22 Uhr 20, RTL II
Der Wind peitschte den Regen unter den Schirm, so dass meine rechte Seite patschnass war. Ich stand an der provisorischen Bushaltestelle, wo es keinen Schutz gab. Die Folge ist, dass ich mich abermals mit Schnupfensymptomen herumschlage. Nachtdienst und Wetterumschwung taten ihr übriges, um das Immunsystem zu schwächen. „Dieser Winter ist nicht mein Winter“, kann ich nur immer wieder sagen. Ich fühle mich gewissermaßen dauerkrank. Das Herz ist wund.
Gegen Schnupfen und Halsweh mache ich mir ein heißes Glas Wasser mit Neo Citran. So findet das noch in Österreich gekaufte Grippemittel seine Anwendung. Ansonsten hoffe ich auf die Selbstheilungskräfte von Psyche und Körper.
Wenn nur die Nachtwachen einigermaßen problemlos verlaufen. Schon komisch: das Altenheim mit seiner Vertrautheit gibt mir zur Zeit etwas Trost und Halt. Die Arbeit dort lässt die eigenen Probleme und Nöte kleiner erscheinen, - stutzt sie auf Normalmaß. Selbstmitleid wäre angesichts der vielen gebrechlichen Alten und deren Lebensschicksale beinahe unanständig.
Trotzdem bin ich jeden Morgen froh, wenn ich dieser Klitsche den Rücken kehren kann.