Nach der Nachtwache ist vor der Nachtwache
an der Haltestelle
Der gestrige Arbeitsweg wurde zu einer kleinen Odyssee. Wegen einer Baustelle fuhren weder Busse noch Taxis die direkte Strecke den Berg hoch. Ich machte mich mit dem neuen Faltrad auf die Achse. Zum ersten Mal kam es auch gefaltet zum Einsatz. Der Umweg war immens: Aus eigentlichen sieben Kilometern wurden beinahe dreißig. Was macht man nicht alles, um zur Arbeit zu kommen! Heute morgen dann den direkten Weg bergab, - mit dem Fahrrad im Regen. Ich hoffe, dass heute die Busse wieder normal gehen.
„Wissen Sie was?“
„Hm?“
„Wäre da nicht der große Altersunterschied, würden wir gut zusammenpassen.“
Ich grinste sie verlegen an. Die kleine 90jährige Greisin lachte herzhaft. Sie saß auf der Bettkante und ich war vor ihr in die Hocke gegangen, um ihr die Bettsocken anzuziehen.
„Stimmt“, sagte ich, „es ist schön, wenn man sich in der Gegenwart von einem Menschen wohlfühlt.“
„Das ist wahr!“ Die alte Dame kicherte immer noch vergnüglich. Ich fand sie zum Knuddeln. Sie hat zwar wie alle Alten ihre Malessen, über welche sie immer wieder klagt, aber im Oberstübchen tickt sie schon noch richtig. Ihr größter Kummer ist sowieso die Einsamkeit.
Nicht mit allen Altenheimbewohnern kann sich solch ein warmherziges Verhältnis ergeben. Tja, wäre sie 50 Jahre jünger …
Ich richtete mich auf. Mein Piepser tönte – ein anderer Bewohner benötigte meine Hilfe.
„Vergessen Sie nicht Ihre Dose!“ meinte sie zum Abschied. Ihr ist es zur Angewohnheit geworden, mir Kekse in einer kleinen Blechdose mitzugeben. "Als Proviant für die Nacht, und damit Sie an mich denken."
Oft esse ich gar keine ihrer Kekse. Beim letzten Rundgang betrete ich dann vorsichtig und leise ihr Zimmer und stelle die Dose zurück auf ihren Platz.
Der Urwald vorm Fenster wuchs. Ich sehe nur noch durch Lücken hinunter auf die Straße. Heute ist ein himmlischer Frühlingstag …, wäre ich nicht müde vom Nachtdienst, und hätte keinen mehr vor mir ... Ich reiße das Fenster auf und lasse die Frühlingsluft herein, leider damit auch den Verkehrslärm. Ein leichter, angenehmer Wind weht. Die Vögel zwitschern munter. Auch wenn ich nicht ganz in dieses Frühlingswunder eintauchen kann, will ich meine Seele dafür öffnen – "vom Beckenrand aus" sozusagen.
Im Altenheim sterben die Alten – was nicht ungewöhnlich ist. Die Reihe des Todes wird nie abreißen. Nur weiß man selten genau, wer als nächstes drankommt. Ich spüre die Angst bei den Altenheimbewohnern, wenn wieder einer aus ihrer Mitte gerissen wurde. Auch mich lassen die Schatten des Todes nicht kalt … Immer nur funktionieren müssen – das kotzt mich an! Den Altenheimbetreiber interessiert in der Hauptsache die Belegungsbilanz. Trotz der weiteren krankheitsbedingten Ausfälle unter den Pflegekräften wird nicht für Ersatz gesorgt. Man sagt: Es sind zu viele Zimmer frei – das können wir uns nicht leisten. Und die Mitarbeiter resignieren und/oder melden sich krank …
Ich will versuchen, bis zum Urlaub durchzuhalten.
Eine kalte Hand greift nach meinem Herzen. Ich wollte, ich wäre schon auf der Strecke. In der Wärme des Tages unter freiem Himmel. Gedanken an Alter und Tod abschüttelnd. Jeder Atemzug ein köstliches Geschenk. Eintauchend in fremde Landschaften. Vom Wind gestreichelt.
Ich tanzte im Altenheim in den Mai. Langsam werde ich zum Einspringer vom Dienst. Als mich gestern die Stationsleitung anrief, war ich reichlich sauer. Es vergeht kaum eine Woche, dass nicht das Telefon klingelt: „Dingsbums ist krank – kannst du einspringen? Du bist meine letzte Hoffnung!“ Gestern war sowieso ein Pisstag. Und ich ohne Regenkleidung auf dem Weg in die Stadt, um mein Fahrrad von der Werkstatt abzuholen. Vor meinem Urlaub war es nötig, es mal wieder generalüberholen zu lassen. Ich rief extra vorher an und fragte, ob es auch fertig sei. Na klar, der Kollege mache gerade eine Probefahrt, hieß es. Als ich dann dort war, sagte der Kollege aus dem Hintergrund, dass er noch auf den „Umsteller“ warte und blablabla. Wann also? fragte ich. 16 Uhr 30, meinte er. Ich also wieder hinaus in den Regen. Eine Stunde in der Stadt herumtreiben. Hätte doch einen Schirm mitnehmen sollen. Oder wenigstens eine Regenjacke anziehen. Egal, ich war schon nass. In einem Spießercafé trank ich einen Kaffee und ging pinkeln. Dann in den Supermarkt und zur Bank. Für die Fahrradreparatur brauchte ich mehr Moneten, als ich einstecken hatte. Sie nahmen nur Bares. Noch eine halbe Stunde – also in die Straßenbahn gestiegen, um nicht noch nasser zu werden und am Bahnhof gelandet. Ein Bier trinken, dachte ich, etwas zur Ruhe kommen und trocknen. Vorsichtshalber rief ich nochmal in der Werkstatt an, bevor ich wieder hinfuhr. Das Fahrrad sei nun fertig, hieß es. Schön, aber es war gerade so gemütlich, und ich trank noch ein Bier. Und immer dachte ich an den scheiß Nachtdienst, den ich noch vor mir hatte. Inzwischen war es 17 Uhr 30. Uff!
Wenigstens ist mein Fahrrad jetzt wieder in Schuss. Es wartet darauf, dass ich es zum 1. Mai ausfahre. Das Wetter ist so lala. Eine Runde über die Felder zur Züchterklause drehen. Und heute Abend in einer Kneipe das Champions League Halbfinale „Barca - Bayern". Wahrscheinlich werde ich aber zu müde sein. Mit Schlafen war nicht viel. Diese einzelnen Nachtwachen schmeißen mich total aus der Bahn. Ich fühle mich wie besoffen (haha!).
Das Wochenende bestand aus Nachtdienst und Schlafen. Eine alte Freundin rief mich am Samstag an. Sie wohnt seit einigen Jahren im Hunsrück. Als ihre Eltern zum Pflegefall wurden und verstarben, erreichte mich das wie ein Warnschuss – da waren Vater und Mutter noch wohlauf – , und ich versuchte sie auf die Pflegeproblematik und ihre Vorstellungen dahingehend anzusprechen … Nun ist alles vorbei. „Hallo, du Vollwaise“, begann sie das Telefonat. Wir redeten lange. Sie haderte wie früher mit den Zuständen in der Altenpflege. Ihren kämpferischen Geist hat sie noch, dachte ich. Wir waren gute Nachtwachen-Kollegen gewesen, und mehr. Vielleicht war ich ihr zu spießig, zu wenig idealistisch. Sie suchte mehr den Aussteigertypen und Freak. Dabei traf sie dann die kaputten Typen. That`s life. Jedenfalls blieb sie einer der wenigen Menschen, die mir am Herzen liegen, und andersherum gilt das wohl auch. Wenn ich nur nicht so ein Telefonmuffel wäre. Selten rufe ich an.
Sonntagfrüh musste ich mangels Direktverbindung mit dem Bus über den Bahnhof zurückfahren. Ich nutzte die Gelegenheit für einen kleinen Einkauf und schaute den morgendlichen Ausflügler und Reisenden zu. Die Müdigkeit überfiel mich, kaum dass ich mich irgendwo setzte. Ich hatte nur den einen Nachtdienst, war also schon über 24 Stunden wach. Taxi wollte ich diesmal keins nehmen. Die Taxifahrerei ist zwar bequem aber geht mit der Zeit ins Geld. Also riss ich mich zusammen und machte mich vom Bahnhof aus auf den Nachhauseweg mit Straßenbahn und Bus.
Es war ein typischer Sonntagvormittag. Nichts los auf den Straßen. Mir begegneten lediglich einige Kirchgänger. Vor mir lag das Kaffeehaus. Fast hätte ich sofort wieder die Flucht ergriffen. An der Bar war ein Frühstücksbuffet aufgebaut, und der Laden brummte voll Familien mit Kind und Kegel. „Brauchst du einen ganzen Tisch?“ fragte mich der Chef, der mithalf. „Nein“, antwortete ich und schaute mich um. Ich durfte sitzenbleiben und mein Weizenbier trinken. „Nachtdienst gehabt?“ „Ja, ich warte auf den Bus. Ich räume gleich wieder das Feld.“ „Lass dir ruhig Zeit“, meinte der Chef grinsend. In der Folge kamen allerdings immer mehr Gäste, und ich fühlte mich unbehaglich, weil ich einen Tisch mit drei Plätzen belegte. Es war, als befände ich mich im falschen Film: Um mich herum die saubere, heile Sonntagswelt und ich dazwischen mit müden Augen, zerknautschter Lederjacke und einem Bier. Zügig trank ich aus und verabschiedete mich. Lieber betrachtete ich mir noch die Auslagen einiger Schaufenster auf dem Weg zur Bushaltestelle.
Ich machte es mir in meinem Bett gemütlich, wo ich bis heute, Montagmorgen, verblieb. Überflüssig zu sagen, dass ich Sonntage nicht mag. Sie sind für mich toter als tot. Es sollte sie nicht geben. Den Sonntag nach einem Nachtdienst zu verschlafen, war also nicht die schlechteste Lösung.
Der graue Asphalt der Fahrbahn glänzt. Noch kann ich durch das Dickicht hinunter zur Straße sehen. Aber nicht mehr lange – das Grün wuchert munter.
Es regnet Bindfäden. Ein Nachtdienst steht vor der Tür. Ich ergebe mich in die Nachmittagslethargie mit einem schlechten Fernsehprogramm. Die rote Wäscheleine vorm Fenster erinnert mich an sonnige Tage des letzten Jahres. Zwei rote Wäscheklammern baumeln an ihr, ihre Farbe inzwischen ausgeblichen. An den Enden sind sie beinahe durchsichtig. Ich denke an ein Herz, das in der Witterung langsam seine Farbe verliert und durchsichtig wird. Vielleicht passiert das manchmal im Leben.
Vor einem Jahr lebten auch die Eltern noch. Ich kann immer noch nicht fassen, was alles in den wenigen Monaten passierte. Der Schlüssel für das Elternhaus liegt auf dem Fenstersims neben Armbanduhr, Kugelschreiber und Notizzetteln. Was ich wohl fühlen werde, wenn ich die Tür aufschließe und in die Vergangenheit eintrete? Ich werde allein sein mit den Erinnerungen … Irgendwo zwischen all den Sachen sind die Eltern noch. Ich will mir Zeit lassen, eine Dose Bier im Rucksack. Bei den Gedanken daran muss ich tief Luft holen, und meine Augen füllen sich mit Tränen.
Ich lege meine Hand auf den Heizkörper. Er wärmt leicht. Pissing whole day long. Das Rauschen der Autos tönt von der Straße zu mir hinauf. Ich zappe durch die TV-Programme. Eigentlich habe ich keinen Kopf für gar nichts.
Der Mensch und das Leben gehen eine äußerst merkwürdige Verbindung ein.
Schon wieder muss ich einspringen. Momentan besteht eine große Planungsunsicherheit, was meine freien Tage angeht. Es ist, wie die Chefin sagte, fast unmöglich, examiniertes Personal zu bekommen. Sogar Leihfirmen wurden bereits angeschrieben. Offensichtlich gibt es in Deutschland nicht genügend Fachkräfte für die Altenpflege. Was mich freilich überhaupt nicht wundert. Oder wundert sich jemand darüber?
Ich wundere mich eher, dass ich noch immer in diesem Beruf durchhalte. Irgendwann ist auch bei mir der Ofen aus. Dabei erlebte ich auch gute Zeiten in der Altenpflege. Also, bessere Zeiten als heute. Ich erlebte gute Teamarbeit und Chefs, die sich für ihr Personal und gute Arbeitsbedingungen einsetzten. Aber seit Jahren steigt permanent der Leistungsdruck auf das Personal, während gleichzeitig die Leistungsbereitschaft eher abnimmt.
Gerade für den Nachtdienst wird es eng, wenn eine Nachtwache krankheitsbedingt ausfällt. Kein Schwein will bei uns gern Nachtdienst schieben, seit man alleine in der Nacht ist. (Von den anderen Belastungen ganz abgesehen.)
Es gibt das schöne Sprichwort: „Der Krug geht solange zum Brunnen, bis er bricht.“ Das gilt bereits seit vielen Jahren für die Altenpflege. Der Spagat zwischen Anspruch und Wirklichkeit ist längst überdehnt. Trotz besseren Wissens bewegt sich in diesem System erst etwas, wenn der Totalausfall kurz bevorsteht. (Das gilt nicht nur für die Altenpflege.)
Vorher wird geheuchelt und gelogen, was das Zeug hält. Schönfärberei, welche sogar von den behördlichen Überwachungsinstitutionen unterstützt wird. Jedenfalls erscheint es mir so. Ich arbeite seit 1986 in der Altenpflege. Und die Politik redet sowieso nur um den heißen Brei. Seit Jahren gibt es den Pflegenotstand. Seit Jahren gibt es grauenhafte Zustände in Altenheimen. Aber anstatt man mittels mehr qualifiziertem Personal gegen diese Mängel vorgeht, entwirft man am Schreibtisch neunmalklug tausende von Qualitätsstandards. Die natürlich in der Praxis bei solch katastrophalen Bedingungen nie umgesetzt werden können. Es gilt die Devise: Hauptsache protokolliert und schriftlich abgehakt. Und wenn der Depp von Altenpfleger die Vorgaben nicht umsetzen kann, dann ist er eben unfähig. Dass eine Nachtwache niemals fünfzig zum Teil stark pflegebedürftige und demente Bewohner(innen) ausreichend versorgen kann, interessiert dabei nicht. Dasselbe gilt auch für den Tagdienst. Der Arbeitgeber ignoriert die Einwände des Personals oder sagt, dass für weitere Mitarbeiter kein Geld vorhanden ist. Kann es das sein?? Dass wir uns letztendlich alle in die Tasche lügen?
Ich habe natürlich keine Ahnung von dem Geld, das betriebswirtschaftlich zur Verfügung steht.
Aber ich denke: Irgendwelche scheiß Kohlekraftwerke werden vom Staat subventioniert – wieso subventioniert man nicht die Pflege?? (Das mit den Kohlekraftwerken war nur ein Beispiel. Ich denke auch an die Ausgaben für Waffen und anderen Unsinn.)
Wenn ich dann den Politikern lausche, die in Talksendungen ihren Senf zum Thema Pflegenotstand ablassen, habe ich das Gefühl, dass die überhaupt nicht wissen, was in Altenheimen eigentlich abgeht. Freilich können Politiker ihre Alten meist privilegiert versorgen lassen ...
Was mich aufregt, ist vor allem die stattfindende Heuchelei, die Schönfärberei! Sollen sie doch einfach Farbe bekennen und sagen, dass eine bessere Versorgung unserer Alten und Schwachen nicht möglich ist. Damit könnte ich leben und sagen: machen wir also das Beste daraus! Dann wäre wieder gute und ehrliche Teamarbeit möglich – ohne unerfüllbare Qualitätsvorgaben.
(Wenn man all die Gelder, die man mit der Theorie für eine gute Pflege und der damit einhergehenden Bürokratie aufwendet, in neue Arbeitkräfte und deren Ausbildung in den Altenheimen steckte, wäre das schon eine spürbare Verbesserung.)
Eigentlich wollte ich mich gar nicht mehr darüber aufregen. Ich kann es sowieso nicht ändern.
Scheiß drauf.
Es sprießt in zartem Grün. Ungewöhnlich – ich friere nicht in meiner Bude – öffne das Fenster.
Dumm nur, dass ich aufgrund des Nachtdienstes nicht viel vom Tag habe. Aber vielleicht bleibt es etwas länger freundlich und warm. Ich wünsche es mir.
Manche Tage sind keine Tage. Insbesondere Tage, die ich aufgrund des Nachtdienstes verschlafe. Wie heute: Ich blicke in eine Waschküche. Die Autos rauschen über die nasse Fahrbahn. Die Natur schaut reichlich betröpfelt drein. Ich halte mich an einem Kaffee und sehe nebenher fern. Eine der nachmittäglichen Sitcoms mit Lachspuren. Ein Blödsinn aber auf eine Weise entspannend für meine Seele. Bei manchen Gags muss auch ich grinsen. Na also, denke ich, geht doch noch. Und nun unter die Dusche ...