Die Arschwischmaschine hat frei
Am frühen Morgen wachte ich auf, weil es gewitterte. „Unüblich, dass es morgens gewittert“, dachte ich im Halbschlaf und hörte es donnern und hörte den Regen prasseln. Ich träumte wirres Zeug von einer Reise nach Venedig. In meinem Kopf öffneten sich die Kammern, und alles floss ineinander über – was die skurrilsten Mischungen ergab. Ein Surrealist hätte seine Freude daran. Als ich dann wirklich wach wurde, war es längst hell, beinahe Mittag. Kein Gewitter mehr.
Die Sonne schafft es nicht ganz, durchzukommen … Der ganze Tag schafft es nicht so richtig, zu mir durchzukommen.
Unten ist Stadtfest. Nichts für mich – von einem Steak-Brötchen abgesehen. Ich mag es lieber ruhiger und mit weniger Menschen. Trotzdem muss ich heute noch mal raus. Einkaufen.
Das Alleinsein lässt sich besser ertragen, wenn man ab und zu den Platz wechselt. Das schafft ein Gefühl, der inneren Gravitation durch eine Bewegung hinaus entgegenwirken zu können. Wenigstens für kurz.
Die Schwüle verstärkt meine Lethargie.
Es hilft nichts. Ich muss los.
Die Waschmaschine rumpelt. Das defekte Rohr ist repariert und der Abstellraum ausgemistet. Ein Elektroheizer läuft, um die letzte Feuchtigkeit aus den Wänden zu vertreiben. Die Decke ist wieder geschlossen, der Dreck weg gekehrt. Die ersten Sonnenstrahlen dringen durch den Blätterwald in meine Wohnung. Die Normalität ist wieder hergestellt. Die einzige Katastrophe bin ich selbst, witzele ich. Diesen Tag will ich mir nicht mit trüben Gedanken verderben. Ich werde das schöne Wetter ausnutzen und mit dem Fahrrad eine Runde drehen. Die Biergartensaison dauert nicht mehr lange an. Die Meteorologen sagen, dass der Herbst länger wurde und früher beginnt.
Ich freue mich auf eine warme Dusche und frisch duftende Wäsche. Ich reiße das Fenster auf, blicke hinaus ins Gestrüpp, atme tief durch. Die Luft ist noch angenehm kühl und riecht gut. Ich öffne auch die Haustür, lächele beim Blick auf meinen Drahtesel. Auf meiner Fahrradreise hatte ich notiert: Mein Fahrrad meine Geliebte – sie schleppt, und ich trete.
Was einem nicht alles für Unsinn durch den Kopf geht, wenn der Tag lang ist.
Inzwischen habe ich den Wahlschein. Ich könnte heute schon wählen. Zu den angeblich vielen Unentschlossenen gehöre ich jedenfalls nicht. Die Partei, mit der man total einig ist, gibt es sowieso nicht. Was bleibt, ist eine Richtungsentscheidung, oder man wählt eine Person, die einem total sympathisch ist, oder man glaubt, strategisch wählen zu müssen, - oder eben gar nicht.
Hm, vielleicht lasse ich die Wahlunterlagen noch ein Weilchen auf meinem Schreibtisch liegen. Es eilt ja nicht.
Wiedermal erfuhr ich, dass es zwischen Menschen nicht einfach ist. Wir stolpern über Missverständnisse, Misstrauen und Vorurteile – lesen und hören nur das, was in unser bereits vorgefasstes Bild passt. Selbst (vermeintliche) Freunde geraten urplötzlich aneinander. Schnell sind Gefühle verletzt, und ein Zurückrudern ist nicht mehr einfach möglich. Vielleicht taugte die Freundschaft auch nicht. Vielleicht kannte man sich einfach nicht gut genug. Man muss das nicht dramatisieren. Solche Zerwürfnisse lassen sich wahrscheinlich kaum vermeiden. Danach ist die Luft wieder sauberer, und es lässt sich leichter atmen. Natürlich bleibt ein bitterer Nachgeschmack bei der Sache, - ein Nichtverstehen können.
Die Handwerker sind im Haus, um die defekte Warmwasserleitung zu reparieren und einen Absperrhahn in meinem Abstellraum auszuwechseln. Wenn ich aufs Klo will, muss ich an ihnen vorbei. Es ist unangenehm. Ich fühle mich blockiert. Sie benutzen eine Steckdose in meinem Bad, so dass ich nicht mal die Tür schließen kann ... Hoffentlich haben sie bald alles erledigt. Das Prekäre ist: gestern Abend nahm ich Abführtropfen, - in meinem Bauch rumpelt es.
Ich denke laut: „Macht doch endlich Mittagspause!“
Shit happens, oder Katastrophen passieren. Niemand ist vor ihnen gefeit. Wir können froh sein, wenn die Katastrophen nicht so groß sind und wir glimpflich davonkommen. Eigentlich passiert fast jeden Tag ein kleines Unglück: Wir verpassen unseren Bus, wir bekommen einen Schnupfen oder einen hässlichen Pickel, wir hauen uns mit dem Hammer auf den Daumen, wir streiten uns um Nichtigkeiten, die Milchflasche fällt uns herunter, die Waschmaschine gibt ihren Geist auf … Die Liste der alltäglichen Mini-Katastrophen ließe sich endlos weiterführen. Gestern Abend tropfte in meinem Abstellraum Wasser von der Decke. Bevor ich zum Nachtdienst aufbrach, wollte ich den Sperrmüll hoch zur Garageneinfahrt tragen, und entdeckte die Misere. Wie ich inzwischen vom Vermieter weiß, leckt die Warmwasserleitung. Handwerker müssen kommen. In meinem Flur sieht es aus wie Sau, weil der Vermieter den Putz von der Decke klopfte. Alles im Abstellraum ist feucht. Nun ist das Warmwasser abgestellt, und es tropft wenigstens nicht mehr. Ich wohne sowieso in einem alten, heruntergekommenen Gemäuer – nun noch dieser Scheiß. Das hebt nicht gerade die Wohnqualität. Am Liebsten würde ich das Weite suchen und erst zurückkommen, wenn die Sache erledigt ist. Warm Duschen ist freilich erst mal auch nicht drin. Wie gesagt: von solch kleinen Katastrophen bleibt niemand verschont, und sie versüßen einem die Tage. Bis zu einem gewissen Grad sind sie wie das Salz in der Suppe unseres Lebens. Die mittelgroßen und großen Unglücke passieren Gott sei Dank weit seltener. Mit den Katastrophen im Leben verhält es sich in etwa so wie mit dem Meteoriten-Beschuss der Erde. Die großen Brocken sind seltener und fliegen darum meistens vorbei. Und die vielen kleinen, die ständig die Erde treffen, richten keine nennenswerten Schäden an.
Ich würde sogar sagen, dass die kleinen Unglücke oder Mini-Katastrophen den Menschen positiv auf Trab halten. Sie rütteln einen kurz durch und können neue Impulse setzen. So werde ich die Gelegenheit nutzen, um im Abstellraum (und überhaupt) mal richtig auszumisten. Wer weiß, wie lange ich in dieser Bruchbude noch wohnen kann. Mein Vermieter sucht schon seit längerem einen Käufer. Falls ich holterdiepolter umziehen muss, weil hier alles aus dem Leim geht, will ich nicht so viel Krempel mitschleppen.
Nerven tut mich die Sauerei aber schon. Normalerweise gehe ich ungeduscht nicht aus dem Haus. Traue ich mich unter die kalte Dusche? Vorher noch ein Bier trinken ...
Ich fühle mich selbst im Wachsein oft wie im Traum. Manche Ereignisse erscheinen mir irrational genug dazu. Und dann die Häufung dieser Ereignisse.
Z.B. die seltsame Nachtzugfahrt von Basel zurück nach Hause im Halbdunkel des Restaurantwagens – und ich Dummerjan ließ mir meine Brieftasche klauen (um sie immerhin ohne Geld beim Service-Mann wiederzubekommen. Warum hatte er nicht meinen Namen ausgerufen, wo doch mein Ausweis in der Brieftasche war?) Beinahe denke ich, dass K.O. Tropfen eine Rolle gespielt haben könnten, denn so viel Bier hatte ich nicht getrunken. Womöglich wurde ich nicht von den Reisenden sondern vom Service-Mann beklaut.
Im Nachhinein erscheint mir ausserdem unheimlich, wie mir der Zugführer alles Gute wünschte, als ich an meinem Zielbahnhof ausstieg. Es war eine dunkle Nacht. Es war wie im Traum.
Nun gut. Passiert ist passiert.
Auf meinen Blogs vollzog sich indes auch Geheimnisvolles – alle Bilder, die ich vor März 2013 einstellte, sind nicht mehr sichtbar, weil die Grafikadresse auf den Beiträgen nicht mehr mit denen auf den Picasa Webalben übereinstimmt.
Hinzu kommen ein paar verrückte Träume, die ich in den letzten Tagen hatte. Also echte Träume. Im ersten befand ich mich im Haus meiner Eltern und entdeckte eine Geheimtür zu einem niedrigen Raum, der mit allerlei Krust voll gestellt war, in der Hauptsache Werkzeug meines Vaters. Ich kroch durch diesen Raum und wurde immer müder, konnte kaum noch einen Gegenstand konzentriert ins Auge fassen.
Plötzlich sah ich um mich herum eine ganz andere Szenerie – wie aus dem Himmel: unsere Familie in einer unwirklichen, fantastischen Umgebung mit Haus und Swimmingpool. (Wir hatten kein Swimmingpool.) Schließlich sah ich meine Mutter. Die Haare fielen ihr strohig übers Gesicht. Sie saß im Rollstuhl. Ich wischte die Haare aus ihrem Gesicht, und sie lächelte. (Als sie starb, hatte sie kurze Haare.)
Ich wachte auf.
Es klingelte. Verschlafen schaute ich nach. Eine alte Freundin stand mit ihrem Hund vor der Tür. Ich hatte sie seit Ende 2005 nicht mehr gesehen. Wir hatten uns einiges zu erzählen. Ich stieg in ihr Wohnmobil, und wir fuhren nach Ladenburg, wo wir spazieren gingen.
„Irgendwie schräg, oder was?“ würde jetzt William Shatner in seiner Sendung sagen, in der er rätselhafte Vorkommnisse präsentiert.
(Eigentlich trinke ich, damit mir das Leben nicht wie ein rätselhafter Traum vorkommt. Bisher klappte das ganz gut.)
Heute morgen hatte ich den nächsten (echten) verrückten Traum. Ich erzähle nur das Ende, weil das andere zu skurril anmutet. Ich war zu Fuß auf dem Weg in meine Heimatstadt. Es regnete. Plötzlich wurde der Regen immer stärker. Und es waren keine Regentropfen mehr, die vom Himmel fielen, sondern Millionen, Milliarden Heuschrecken. Ich rannte zu einem Vordach, um mich unterzustellen. Auf dem Boden sah ich einen toten Hasen ausgestreckt liegen. Als ich näher hinschaute, war es eine überdimensionale Heuschrecke …
Ich wachte auf.
Hier sitze ich am Computer und mache mir diese seltsamen Geschehnisse und Träume der letzten Tage Replik. Am Abend muss ich zurück in den Nachtdienst. Die Sonne scheint. Es ist August. 2013. Die Realität zieht sich hinter dem Horizont zurück. Es bleiben nur Träume.
Als Madonna Fünfzig wurde, fragte man sie, wie sie es mache, um so schön zu bleiben. Madonna überlegte und meinte schließlich: „Viel Schlafen.“ (Sie meinte wirklich Schlafen und nicht Sex.) Wenn an Madonnas Schönheitstipp was dran wäre, dann müsste ich mich auch ganz gut gehalten haben. Das will ich aber nicht beurteilen. Eine Glatze habe ich jedenfalls noch nicht – so viel kann ich sagen. Eine Freundin, die ich seit über zwei Jahren nicht mehr getroffen hatte, sagte, ich sei alt geworden. Tja. Ich suche nicht nach neuen Fältchen im Spiegel und schon lange nicht mehr nach grauen Haaren. Sicher hat selbst Madonna graue Haare, aber sie färbt sie eben. Mittels Kosmetik kann man schon ein paar Jahre wett machen.
Jedenfalls schlafe ich, seit ich Nachtdienst im Altenheim schiebe, ungeheuer viel. Meist gehe ich abends kaum später als 21 Uhr zu Bett und schlafe bis 10/11 Uhr am Morgen. Natürlich nicht durch. Wenn ich dann aufstehe, tun mir alle Glieder weh vom vielen Liegen. (Was auch der alten Matratze geschuldet ist.) So auch heute. Ich stand nach 11 Uhr auf und fühlte mich ziemlich alt.
Gerade höre ich Janis Joplin, was mich leider nicht jünger macht. Aber ich mag ihre Musik. Janis Joplin wäre im Januar dieses Jahres Siebzig geworden. Sie befindet sich seit 1970 im ultimativen Schönheitsschlaf. Weckte man sie heute von den Toten auf, wäre sie schön wie ein Engel. Da bin ich mir ganz sicher.
Man sagt ja, dass der Schlaf der kleine Bruder des Todes sei. (Grübel.)
Man kann auch den Gedanken haben, dass, wer länger schläft, sich weniger verschleißt. Oder man machte die Rechnung auf, es gäbe eine feste Wachzeit fürs Leben, so dass eine längere Schlafzeit logischerweise die gesamte Lebenszeit verlängern würde. (Lebenszeit = Wachzeit + Schlafzeit.) Ich weiß nicht, was ich glauben soll. Mal Madonna fragen …
Zu dem Thema fällt mir eine schwarze Komödie mit Bruce Willis, Meryl Streep und Goldie Hawn ein: „Der Tod steht ihr gut“. Die genaue Handlung habe ich längst vergessen. Aber ich weiß, dass ich mich köstlich amüsierte. Lachen macht zwar Lachfalten, aber ein lachender Mensch wirkt meines Erachtens immer jünger und frischer. Mit Botox geht das freilich nicht mehr ganz so gut. Dann lieber schlafen. Viel verpasst man eh nicht. Oder im Schlaf lachen. Schon mal im Schlaf gelacht? Ich schon. Das war super!
Ich halte manchmal inne und frage mich: Bin ich das, der das macht? Zum Beispiel, wenn ich zum Bierglas greife … Spinne ich den Gedanken weiter, dann betrifft es alles. Selbst jetzt, wo ich hier sitze und am Computer schreibe – bin ich das? Und wer ist dann ich, wenn ich es nicht wäre? Aber natürlich bin ich es. Wer sonst?
Ihr meint, dass man für solche Gedanken einige Bier oder andere Drogen braucht? Nein, das glaube ich nicht. Schon im schüchternen Alter von Fünf oder Sechs fragte ich nach meiner Identität, meiner Herkunft … Wozu und wieso bin ich hier?
Ich weiß, dass die meisten von Euch denken, dass es Unsinn ist, sich mit solchen Gedanken zu belasten. Viele von Euch stellten das Leben oder die Existenz noch nie in Frage. Oder aber Ihr wisst ganz genau, was ihr machen wollt. Darum seid ihr gläubig, oder ihr macht Karriere, oder ihr fickt Euch so durchs Leben. Einfach so. Ich eigentlich auch – aber ich habe daneben eben noch diese Fragen, die scheiß letzten Fragen.
Ansonsten bin ich ganz normal. Ich schreibe ein paar Gedichte über die Absurdität des Lebens, und gut ist. Halbwegs.
Nein, es ist nicht gut. Ganz und gar nicht.
In welcher Welt lebe ich?
Wer seid Ihr?
Warum macht Ihr so, als wäre alles in Ordnung?
Haltet Ihr nicht auch manchmal inne und fragt Euch: Bin ich das, der das macht?
Ich will nicht glauben, dass alle von Euch Zombies sind. Schließlich las ich Bücher von Autoren, die mir aus der Seele sprechen, die ähnliche Gedankenansätze haben …
Wo sind die Lebenden? Wo seid Ihr?
Wo?
Scheiße!
Gestern unternahm ich einen kleinen Fahrradausflug ins Nachbarstädtchen. Auf dem Marktplatz war ein kleiner Rummel mit einem Fahrgeschäft für Kinder in der Mitte. Ich setzte mich vor ein Café und betrachtete die Szenerie. Natürlich waren viele Familien unterwegs. Die Kinder hatten ihren Spaß an diesem Jet-Karussell – oder wie sich das auch immer nennt.
Mein Herz fühlte sich verbeult an. Etwa wie eine leere, verbeulte Plastikflasche. Ich trank nur ein Bier. Bevor ich ging, notierte ich: „Mir ist klar, dass die Menschen, die Kinder großzogen, mehr erreichten bzw. leisteten, als ich je erreichen bzw. leisten kann.“
Wie kurz kann eine Kurzprosa sein, damit sie noch Prosa ist? Wann handelt es sich um ein Gedicht, und wann um Prosa? Ist das Prosagedicht als Gedicht-Gattung akzeptiert? Wie viel muss man von Gedichten verstehen, um zu dichten? Kann man Kunst definieren? Ist Kunst ganz einfach Geschmacks- und Auslegungssache?
Genauso gut kann man nach Gott fragen. Die einen sind felsenfest von seiner Existenz überzeugt, und die anderen meinen, dass es für die Erklärung der Welt und des Daseins keinen Gott bedarf. Und dann gibt es noch die, welche Erklärungen jeglicher Art ablehnen. Und nicht zu vergessen jene, die sich für diesen Krampf gar nicht interessieren, aber per forma in die Kirche gehen. Zumindest an Weihnachten. Das dürften sogar die meisten sein. Sie besitzen das Opportunisten-Gen. Sie richten sich in Dingen wie Kunst, Religion und Vaterlandsliebe nach der führenden Meinung. Eigentlich interessieren sie sich gar nicht wirklich für diesen Kram. Aber es gehört nun mal dazu. Sie lieben das Leben wie einen Baukasten und hinterfragen die Teile nicht, die darin sind – außer das Hinterfragen wäre gerade en vogue. Sie gehen nach der beiliegenden (heiligen) Bauanleitung vor und basteln sich ihr Leben. Das sieht dann aus wie eine Reihenhaussiedlung. Nein, diese Leute sind nicht notwendigerweise dumm. Sie haben (wie gesagt) lediglich das Opportunisten-Gen. Freilich gibt es auch unter ihnen Unterschiede. Manche hinterfragen ihr Leben wenigstens ansatzweise. Manche bemühen sich wenigstens, gute Christen zu sein. Aber die Mehrheit besteht aus Bürokraten, Technokraten und Kapitalisten. Sie bestimmen im Großen und Ganzen die Welt, der ich ansichtig werde, wenn ich aus dem Fenster schaue. Für sie ist alles okay, wie es ist.
Ich nenne sie die Para-Zombies, denn sie leben wirklich. Sie sind keine lebenden Toten. Trotzdem sind sie in gewisser Weise tot. Etwa so tot wie Avatare. Sie funktionieren nach einem festgelegten Strickmuster. Sie richten sich nicht nur äußerlich nach der Masse sondern auch in ihrem Denken und Streben. Ihre Selbstreflexion ist so flach wie die Politur, die sie auf ihre geliebten Autos auftragen. Kritisiert man ihre flache Denke, wird man aus ihren Kreisen ausgeschlossen oder für verrückt erklärt.
Und das sind dann die Menschen, die dir erklären wollen, was ein Gedicht ist, - oder überhaupt, was Kunst ist; - oder sie wollen dir erklären, warum der Glaube an Gott richtig (oder nicht richtig) ist.
Mir sind echte Gläubige lieber. Auch Nihilisten sind mir lieber, wenn ihre Einstellung keine Mache ist. Leider sind diese Originale rar gesät. Ich traf bisher nur wenige Exemplare echt lebender Menschen. Manche sind es eine Zeit lang in ihrer Jugend; aber dann heiraten sie, machen Karriere und verlieren ihre idealistische Leidenschaft. Sie sagen dann, dass sie erwachsen wurden. In meinen Augen wurden sie zu Para-Zombies. Die Para-Zombies verweisen auf ihre beruflichen Erfolge, Studiengänge, Doktortitel und Bankkonten. Sie sagen, dass der recht hat, wer es in der Gesellschaft weit bringt. Sie erheben ihre geistige Flachwichserei zum Naturgesetz.
Jeden Tag habe ich mehr die Nase voll von den Lügen, von der Heuchelei, von dem leeren Gefasel der Politiker, von dem ganzen Theater …
Okay, erklärt mich für verrückt. In dieser Welt bin ich gern verrückt.
Draußen weht zwischendurch ein heftiges Lüftchen. Die Brennnesseln vor meinem Fenster wiegen sich im Wind. Es ist ein heißer, trockener Wind. Die Sonne knallt. Bis 38° Celsius sind angesagt. Ich höre laut Musik. Das Haus ist leer. Meine Vermieter sind an der Ostsee. „Midnight Oil“. Das TV läuft stumm. Charlie Sheen in Boxer Shorts. Ich bewegungslos, reibe mir die Augen, um im Tag anzukommen. Mein Herz liegt schwer in meiner Brust. Eine wüste Leere im Kopf. Das Bier schmeckt wie immer nach Bier. Ich wache im selben Bett auf. Im Spiegel sehe ich mein Gesicht. Die Sonne ist ewig dieselbe. Das ganze Universum ist erstarrt. Nichts bewegt sich wirklich. Nur die Brennnesseln im heißen Wind vor meinem Fenster.